Glockengeschichte

Glockengeschichte der Einhardbasilika St. Marcellinus und Petrus in Seligenstadt

Einhard war  enger Vertrauter und der spätere Biograph Karls des Großen. 828 brachte er die Gebeine der Märtyrer Marcellinus und Petrus, die in der diokletianischen Christenverfolgung am 02.06. 304 in Rom als Blutzeugen starben, in das damalige Ober-Mühlheim. Er gründete im Jahr 830 ein Benediktinerkloster und errichtete eine imposante  Wallfahrtsbasilika über dem Grab der frühchristlichen Märtyrer Marcellinus und Petrus. Aus dem Mund der Wallfahrer erhielt Einhards Ort einen neuen Namen: „Seligenstadt“ – die glücks- und heilbringende Stätte. Einhard selbst fand 840 bei seinen Heiligen seine letzte Ruhestätte. Die Wallfahrt wird heute noch alljährlich am Sonntag nach dem 02.06. mit einen festlichen Amt und einer anschl. Prozession gefeiert. Die Basilika bekam 1050 zwei Glockentürme und 1250 den sogenannten „Engelsturm“ über der Vierung, sowie den spätromanischen Hochchor. Der Engelsturm nahm zur Einweihung 1296 die von Meister Albraht zu Ehren der Märtyrer  gegossene Hauptglocke auf. 1909 wurde ein neues Geläute angeschafft – dies hat den 1. Weltkrieg nicht überlebt.

Geschichte des jetzigen Geläutes

Die vier größten Glocken wurden im Jahre 1925 von der Gießerei Ferdinand Otto in Bremen – Hemelingen als Ersatz für das im 1. Weltkrieg eingeschmolzenen Geläute gegossen. 1942 mussten diese Glocken zu Kriegs-Zwecken   abgeliefert werden. Sie haben aber den Weltkrieg unbeschadet auf dem sogenannten Hamburger „Glockenfriedhof“ überstanden und kehrten 1947 wieder nach Seligenstadt zurück. 1950 wurde von Otto noch eine fünfte Glocke dazu gegossen. Die größte Glocke hängt allein im Südturm in einem Holzglockenstuhl aus dem Jahre 1909; die anderen vier Glocken sind in einem Stahlstuhl im Nordturm untergebracht. 1999 kam eine sechste Glocke durch den „ Arbeitskreises Glocke 1599“  hinzu. Es ist der Nachguss einer Renaissance – Glocke aus dem Jahr 1599, die Hieronymus Hack aus Aschaffenburg für das Rathaus in Seligenstadt lieferte. Sie wurde aber nach dem letzten Weltkrieg so stark beschädigt, so dass eine Schweißung nicht mehr möglich war. Heute steht die Glocke von 1599 im Landschaftsmuseum Seligenstadt. Der Nachguss dieser  Glocke wurde von der Gießerei Rincker / Sinn hergestellt und hängt zur Zeit alleine im Engelsturm in einem Holzglockenstuhl aus dem Jahr 1296, der  bis 1909 sechs Glocken trug.

Die Geschichte der alten Glocke von 1599 und deren Neuguß 1999
(Text: Ulrich Glaab, Arbeitskreis Glocke 1599, Seligenstadt)

Hieronymus Hack, der Gießer der Glocke von 1599, war Ende des 16. Jahrhunderts in Aschaffenburg und Mainz als Rotgießer und kurfürstlicher Zeug- und Büchsenmeister tätig. Er wurde am 26.05.1578 von Erzbischof Daniel zum Hofbüchsenmeister in Aschaffenburg berufen. Ein Jahr vor seinem Tod am 04.05.1599 goß er eine Bannglocke, in seinem Todesjahr dann die besagte Stunden- bzw. Uhrglocke, beide für das damalige Rathaus in Seligenstadt. Wohl in Erwartung seines Todes verzierte er seinen letzten bekannten Guß im oberen Teil mit der Inschrift:

„All Stund dun ich Euch zeigen an, doch niemand seine letzte wisen kann M D XCIX“

Die alte Glocke von 1599 ist die letzte noch erhaltene Glocke des Gießers Hack. Interessant ist vor allem die wechselvolle Geschichte dieser Glocke: zuerst hing sie bis zum Abbruch des „Rödertores“ statt im Rathausturm in eben jenem Stadttor, welches heute nahe der Filiale „Stadtmitte“ der Sparkasse Langen-Seligenstadt zu finden wäre. Ab 1823 hing sie dann, nur als Schlag-/Uhrglocke genutzt, im alten Rathausturm. 1942 musste die Glocke zusammen mit den vier vorhandenen Glocken der Basilika (von 1925) zu Kriegszwecken abgeliefert werden. Sie wurden auf dem sog. „Hamburger Glockenfriedhof“ gelagert, kehrten jedoch 1947 nach Seligenstadt zurück. Später gelangte die Glocke von 1599 in das Landschaftsmuseum Seligenstadt und wurde dort 1949 von Dr. Otto Müller in den Museumsbestand aufgenommen. Lange Zeit stand sie im Eingangsbereich der Prälatur im Klosterhof.

Erst im Mai 1997 wurde man wieder auf die alte Glocke aufmerksam. Sie lagerte in stark verschmutzten Zustand in einer alten Scheune im Klosterbereich. Drei junge Erwachsene (Christian Müth, Ulrich Glaab und Thomas Knapp) zeigten Interesse an dieser historischen Glocke und wurden umgehend von Achim Zöller, dem Leiter des Landschaftsmuseums Seligenstadt unterstützt. Der Glockensachverständige der Diözese Mainz, Günter Schneider, sowie Glockengießermeister Rincker aus Sinn bei Herborn begutachteten die Glocke und befürworteten eine Restaurierung der völlig gesprungenen Glocke. Bis heute ist ungewiß, wie es zu dem über 4,20 m langen Riß kommen konnte, der sich quer über die Flanke und Schulter der Glocke zieht. Mit alten Fotos von 1947 ist belegt, daß die Glocke Hamburg in unbeschädigtem Zustand verlassen hat. Wohl nur für museale Zwecke wurde der überlange Riß – sehr laienhaft – geschweißt und die Glocke im Innern mit einem Eisengestell stabilisiert.

Im Januar 1998 schlossen sich die drei jungen Erwachsenen zum „Arbeitskreis Glocke 1599“ zusammen und begannen ihre Bemühungen zur Restaurierung und Wiederaufhängung der alten Glocke. Grundsätzlich wurde geklärt, ob sich die Glocke in das vorhandene Basilikageläute einbinden lassen würde. Ebenso begutachtete der zuständige Gebietsreferent des Diözesanbauamtes, Herr Mangelmann den Holzglockenstuhl im Engelsturm der Basilika. Dieser trug den Aufhängungen zufolge früher (bis 1909) insgesamt sechs Glocken. Der Baureferent gab seine Zustimmung zur Sanierung und Wiederaufhängung der alten Glocke.

Sodann transportierte man die Glocke nach Sinn in die Glocken- und Kunstgießerei Rincker, vermaß sie und führte eine elektronische sowie eine manuelle (mit Stimmgabeln) Tonanalyse durch. Es wurde klar, daß die alte Glocke  den Schlagton b´ hat und somit genau den Oktavsprung zur größten Glocke, der „Marzellinus- und Petrusglocke“ (3300 kg, Ton b) besaß. Das Gewicht der alten Glocke betrug ca. 320 kg der Durchmesser ca. 83 cm. Fortan bemühte sich der Arbeitskreis um Spenden zugunsten der Restaurierung und Wiederaufhängung. Man wurde großzügig von verschiedenen Seligenstädter Institutionen und Firmen, pfarrlichen Gremien sowie vielen Privatpersonen und Familien unterstützt. Sogar Spender aus Würzburg und Hof  konnten für das Projekt „Glocke 1599“ gewonnen werden.

Nachdem die Firma Rincker die fehlenden Kronenhenkel nachgegossen und angepasst hatte, wurde die Glocke nach Nördlingen zur renomierten und in Europa einzig anerkannten Glockenschweißerei Lachenmeyer transportiert. Da die Firma von anderen Projekten her unter enormem Zeitdruck stand, musste sich der Arbeitskreis bis Mitte des Jahres 1999 gedulden, bis die Schweißung nach langwierigen Vorbereitungen endlich begann. Jedoch schon beim ersten Schweissgang zeigte sich, daß das Glockenmetall von minderer und schwer zu bearbeitender Qualität war. Nun wurde das Prüf- und Analytikzentrum der Landesgewerbeanstalt Bayern beauftragt, eine Metallprobe (Bronzestück der alten Glocke) hinsichtlich der Materialzusammensetzung zu analysieren; erst dabei stellte sich endgültig heraus, daß der außergewöhnlich hohe Bleigehalt keine einwandfreie Schweißverbindung zulassen würde. Da in dieser Form keine Qualität der Schweißung erreicht werden konnte und auch eine dauerhafte Läutefähigkeit nicht sicherzustellen war, entschloß sich die Firma Lachenmeyer Mitte August 1999, die Schweiß- und Sanierungsarbeiten nicht fortzusetzen. Der Arbeitskreis war fest entschlossen, die Glocke spätestens zum anstehenden Jahreswechsel läuten zu lassen, deshalb drängte von nun an die Zeit.

Glücklicherweise machte Glockengießermeister Hanns-Martin Rincker sogleich das Angebot, zu gleichen Bedingungen ein Replikat zu gießen:

Rincker schrieb am 17.08.1999:
Da nun über einen anderen Weg nachgedacht werden muß, wäre ein Neuguß ( z.B. in der Art der alten Glocke als eine Art Replikat ) anzudenken. (…), prinzipiell aber wäre es möglich ein solches Replikat zu erstellen, unter der Bedingung, daß man diesen Neuguß sofort als Replikat – also Neuguß – erkennen kann. (…) Da die Fertigstellung der Glocke bis Ende 1999 zeitlich drängt, wäre (…) eine schnelle Bearbeitung Ihrerseits günstig. (…) Nach der jetzigen Planung würde ein Glockenguß ca. Anfang/Mitte November d.J. stattfinden, so daß die Auslieferung der Glocke etwa Anfang Dezember geschehen könnte.”

Da die geleisteten Beiträge der Sponsoren zweckgebunden für die Sanierung der alten Glocke waren, wurden sämtliche, namentlich bekannte Spender angeschrieben und um Zustimmung für die nun völlig veränderte Situation und Fortführung des Projektes gebeten. Zur großen Freude des Arbeitskreises wurde die von Rincker vorgeschlagene Alternative akzeptiert. Am 05.11.1999 begab sich eine fünfzehnköpfige Abordnung der Basilika-Pfarrei zusammen mit Kaplan Stefan Selzer auf  die Reise nach Sinn, wo am frühen Nachmittag Glockengießermeister Rincker nach Segnung der in der Dammgrube befindlichen sieben Glockenformen durch Kaplan Selzer das Replikat der historischen Glocke von 1599 erfolgreich goß.

Fast genau einen Monat später, am 04.12.1999, weihte der Generalvikar der Diözese Mainz, Dr. Werner Guballa, in der Vorabendmesse zum 2. Adventssonntag die neue Glocke auf den Namen  „St. Benedikt“ in Bezug auf die 1803 aufgelöste Benediktinerabtei Seligenstadt. In seiner Ansprache sagte Dr. Guballa:

„Diese Nachbildung spannt unsichtbare Fäden mit ihrer Vorgängerin, sie ist ein gesegneter Klang für diese Stadt, von dieser Kirche ausgehend. Immer wieder: Ihr seid von Gott gerufen! (…) Sie soll die Säumigen mahnen, die Mutlosen aufrichten, die Trauernden trösten, die Glücklichen erfreuen, es sollen alle gesegnet sein, zu denen der Ruf dieser Glocke dringen wird!“

Zuvor hatte Glockensachverständiger Schneider die neue Glocke in allen Einzelheiten geprüft und für sehr gut befunden, vor der Weihe erläuterte er den zahlreich anwesenden Gemeindemitgliedern den Neuguß:

„Die Glocke besitzt den Schlagton b´, sie hat einen Durchmesser von 86,5cm und ein Gewicht von 410 kg. Sie kann sowohl als solistische Glocke als auch als kleinste Glocke im Gesamtgeläute (Plenum) dieser Basilika eingesetzt werden. Der Nachhall des tiefsten Tones dieser Glocke beträgt 1,5 Minuten. Die Inschriften sind von der historischen Glocke übernommen bzw. kopiert worden. Die Vorderseite ziert ein Medaillon des Hl. Benedikt, auf der Rückseite wurde folgende Inschrift ergänzt: „Arbeitskreis Glocke 1599  Zum vierhundertjährigen Jubiläum der historischen Glocke von Hieronymus Hack“. Gießerzeichen der Firma Rincker, sie ist die 19298. Glocke der Gießerei Rincker.“

In der darauffolgenden Woche wurde zuerst das restaurierte Joch sowie Läutemaschine,  Klöppel und Seilrad mit zwei Flaschenzügen von Hand in den Engelsturm aufgezogen. Am Morgen des 10.12.1999 vor den Hauptaltar verbracht, entschwebte die Glocke alsbald den staunenden und begeisterten Blicken der Anwesenden in die Kuppel des Engelsturmes. Etwa eine dreiviertel Stunde war nötig, sie an ihren vorgesehenen Platz im Glockenstuhl zu hieven. Nachdem Motor, Elektrik, Seilrad und Klöppel montiert waren, erklang kurz vor halb drei nachmittags zum ersten Mal ein Probeläuten.

Offiziell wurde die St. Benedikt-Glocke der Gemeinde vor den Christmetten an Hl. Abend durch alleiniges Läuten vorgestellt, danach vereinigte sich ihr Klang mit den anderen Glocken der Basilika zu einem nun sechsstimmigen, insg. 9360 kg schweren, prächtigen Plenum.

Zur Geschichte der Basilika-Glocken hat der „Arbeitskreis Glocke 1599“ ein Glockenheft herausgegeben.

© Arbeitskreis Glocke 1599, Seligenstadt